Die schwebende Jungfrau am Vorderglärnisch

Von Hans Speck

  

Man sieht die schwebende Jungfrau am Vorderglärnisch besonders gut, wenn der Winter die Nordwand mit einer Schneeschicht bedeckt und die Frühjahrsonne sich über ihr Antlitz und ihren schwebenden Körper legt. Warum diese Felsenerscheinung "Jungfrau“ genannt wird, konnte mir bis heute niemand erklären. Es gibt Leute, die sehen in der Jungfrau das übermütige Vreneli, welches gemäss einer Sage zuoberst auf dem mittleren Glärnisch-Gipfel einen Garten anlegen wollte. Allen Warnungen zum Trotz, man dürfe Gott nicht herausfordern, hatte sie sich auf den Weg zum Gipfel gemacht. Damit sie nicht nass vom Schnee wurde, hatte sie sich ein Kupferkessi auf den Kopf gesetzt. Der Aufstieg war für das Vreneli mühsamer als gedacht und der Schnee lag bereits hoch und es blies ein rauer Wind. Oben angekommen, befreite sie mit blossen Händen ein kleines Stück Wiese vom Schnee, um ihre Blumen pflanzen zu können. Doch Vreneli sollte sich nicht lange über ihr Gärtchen freuen. In grossen Flocken begann es erneut zu schneien, die Blumen waren bald nicht mehr zu sehen. Das Kessi auf Vrenelis Kopf wurde immer schwerer, vergeblich versuchte sie sich davon zu befreien. Der nasse, schwere Schnee drückte das Mädchen zu Boden und es wurde gänzlich eingeschneit. Vreneli erfror elendiglich auf dem mittleren Glärnisch-Gipfel, der seither als Erinnerung an sie den Namen "Vrenelisgärtli“ trägt. Vreneli wurde nie gefunden, aber immer im Winter erscheint es als schwebende Jungfrau in der eingeschneiten  Nordwand des Vorderglärnisch, die mit ihrem rechten Arm in wehendem Kleide zum Gipfel des Vorderglärnisch zeigt, als wollte sie sagen: „Kommt mich doch einmal besuchen!“