Ds Sattler Tiidi und d' Jumpfere Hilti

 

Von Hans Speck

 

 Dorf-Originale sind Menschen, welche die Geschichte eines Dorfes stark prägen und durch ihr unverwechselbares Auftreten, ihre Eigenschaften oder ihr Erscheinungsbild einen hohen Bekanntheitsgrad in der lokalen Bevölkerung erlangt haben und auch nach ihrem Ableben immer noch besitzen. Vor wenigen Jahren war Netstal in der glücklichen Lage, gleichzeitig gleich mehrere davon zu besitzen; sie waren die eigentlichen Farbtupfer unter der Dorfbevölkerung. Meistens waren dies Taglöhner, die von der Bevölkerung kurzfristig eingesetzt werden konnten, sei es für das Holzspalten, das Kühe melken und für andere Arbeiten, die kurzfristig erledigt werden mussten. Der dabei erhalten Lohn wurde in vielen Fällen in Flüssiges umgesetzt. Die meiste Zeit verbrachten diese Männer in den Beizen und waren dem Alkohol nicht abgetan. Einige dieser Originale waren weit populärer als manche vermeintlichen Persönlichkeiten und Servela-Prominenten. Vom «Äbä», von den beiden «K + K» (Käpp Schmuckli und Käpp Weber), vom «Zeiger Frigg» und vom «Wasserbuch Frigg» und wie sie alle heissen, erzählt man sich noch heute Geschichten. Diese Tatsache ist zugleich die Bestätigung: Originale sind unsterblich und bleiben unvergessen! Auch die holde Weiblichkeit war in unserem Dorfe bei den Originalen vertreten, allerdings in relativ kleiner Anzahl. Von zwei davon handeln diese Geschichten.

 

Ds Sattler Didi und ihri Toscani

Eigentlich hiess sie Katharina Stähli. Weil ihr Vater, der Sattler Frigg, vis-à-vis dem ehemaligen Restaurant Waage an der Hauptstrasse eine eigene Sattlerei betrieb, wurde sie von der Bevölkerung schon von klein auf kurzerhand «Sattlers Didi» genannt. Von vielen, vor allem von Kindern, wurde sie auch «Geissli» gerufen. All die Neckereien prallten an ihr ab wie an einer Felswand. Vielleicht hat sie die Umwelt gar nicht richtig wahrgenommen. Aber eins war sie ganz bestimmt: ein liebeswertes Wesen, das keiner Fliege etwas zuleide tat. Was sie aber zweifellos hatte, war die Sucht nach Tabak und Nikotin. Bei ihren ausgedehnten Streifzügen durch das Dorf suchte sie mit Adlerblick nach weggeworfenen Zigarettenstummeln, halbfertig gerauchten [HS1] Brissagos und Rössli-Stumpen, um das Fundgut dann in Pfeifentabak umzuwandeln. Dann stopfte sie ihre Pfeife, die sie stets in einer Rocktasche bei sich trug. Toscanis rauchen waren nebst dem Pfeifenrauchen ihr liebstes Hobby. Schräg im Munde, zwischen ihren Lippen eingeklemmt, paffte sie Unmengen dieser italienischen Zigaretten. «Sie ist mir manchmal vorgekommen wie ein wandelnder Schornstein», meinte eine Nachbarin.

Jedes Kind kannte damals die kurlige, zuweilen etwas nervös wirkende Frau mit ihren blauen Stoffturnschuhen und dem Béret auf dem Kopf, das sie vermutlich sogar im Bett noch trug. Ihre Nichte Marianne erzählte mir erst kürzlich, dass die kleine Katharina viel zu früh auf die Welt gekommen war, leider, wie man erst später wusste, mit schwerwiegenden Folgen. Rein optisch sah man es ihr an, dass das Tidi an diesen Folgen litt. Sie war irgendwie anders als normale Menschen. Augenfällig war, dass sie kein einziges Haar mehr auf dem Kopf hatte und deswegen eben ein Béret auf ihrem Kopfe trug, mit dem sie ihre Vollglatze versteckte. Sie hatte auch stets die gleichen abgewetzten blauen Stoffturnschuhe an und lief mit den Händen auf dem Rücken stark vorneübergeneigt, so als würde sie etwas suchen. Und sie war ja auch am Suchen von Tabak. Geld, um Tabak zu kaufen, hatte sie keines und so blieb ihr nur die Wahl des Suchens. Ich mag mich gut daran erinnern, dass wir Kinder fast ein bisschen Angst vor dem  Sattler Tidi hatten. Eine Angst, die völlig unbegründet war, denn das Tidi war zeitlebens eine liebenswerte Persönlichkeit, die keiner Fliege etwas antun konnte. So leise wie sie sich durch die damalige Gesellschaft bewegte, so leise hat sie sich aus ihrem Erdendasein verabschiedet. Unser Sattler Tidi möge in Frieden ruhen!

 

Ich bi d’ Jumpfere Hilti

Da gab es noch eine andere Frau im Dorf, an die ich mich gut erinnere. Sie gehört auch in die Kategorie der Originale. Diese Frau namens Hilti war vielfach Zielscheibe von uns Jungs. Ihren Vornamen weiss ich nicht mehr und auch wo sie wohnte, ist aus meinem Langzeitgedächtnis entwichen. Doch was wir Lausebengels damals sehr schnell «getschäggt» hatten, war, dass man das Fräulein Hilti unbedingt mit «Jumpferä Hilti» ansprechen musste, aber ja nicht mit Fräulein. Wenn einer von uns sie mit Absicht «Grüezi Fräulein Hilti» begrüsste, wurde sie fuchsteufelswild und schnauzte: «Höred ämal uuf Buebe, ich bi nüd z’Fräulein Hilti – ich bi d’Jumpfere Hilti», was auf gut Hochdeutsch Jungfrau Hilti hiess. Wieviel Jungfrau sie damals noch war, wusste nur sie selbst. Jedenfalls war sie nie verheiratet und das lässt vermuten, dass Fräulein Hilti tatsächlich noch Jungfrau war. Sie war vermutlich auch stolz, dass sie als Unbefleckte im Dorf auftreten konnte. Dazu der deutsche Lyriker, Erzähler und Maler Joachim Ringelnatz in einer seiner Lebensweisheiten: «Eine Jungfrau ist etwas sehr Schönes, vorausgesetzt, sie bleibt es nicht!»