Zmizt i Grind

Von Hans Speck

 

Die Winter waren früher strenger und härter. Das beweisen jahrelange, akribisch nachgeführte Statistiken der Meteorologischen Zentralanstalt der Schweiz, der heutigen METEO Schweiz. Pauschal schiebt man die Schuld der globalen Erwärmung zu. Wir schreiben heute das Jahr 2019 und es scheint in der Tat so, dass der Herbst dem Frühling immer näher kommt, als dem Winter. Frau Holle scheint ganz offensichtlich in die Jahre gekommen zu sein. Die richtigen Winter haben sich in den hohen Norden zurückgezogen, und wenn das so weiter geht, stehen bald einmal an Stelle der prachtvollen Buchen im Buchenwald Palmen- und Bananenbäume. Doch zurück zur eigentlichen Geschichte.

 

Unser Dorf war wieder einmal so richtig eingeschneit und der Wiggis zeigte sich atemberaubend schön in makellosem Weiss. Schon frühmorgens war der „Ziegler“, so nannte man Netstals Fuhrhalter Weber, mit seinem Schneepflug, welcher von einem Pferd gezogen wurde, durch die engen Strassen und Gassen im Wiggis-Dorf gefahren. Zurück blieben links und rechts des Pfades hohe Schneeborde vor den Hauseingängen, die nach jeder Durchfahrt durch die Hausbewohner anschliessend wieder freigeschaufelt wurden. Dadurch bildeten sich manchmal meterhohe Haufen und Hügel, die wir Buben – manchmal waren auch Mädchen dabei – mit kleinen Schaufeln und Hacken aushöhlten und zu Schneehäusern umbauten.

Eines Tages waren mein Freund Urs, der „Schäschägg“ und ich eifrig daran, einen der Schneehaufen auszuhöhlen und uns häuslich einzurichten. Dazu benutzten wir alte und ausgediente Teppiche und Türvolagen, die von unseren Eltern und Nachbarn nicht mehr gebraucht wurden. Während unseren Aktivitäten kippte urplötzlich die bis anhin kameradschaftliche Stimmung um. „Schäschägg“ passte irgendein Einrichtungsgegenstand im Schneehaus nicht. Plötzlich nahm er seine Schaufel zur Hand und versuchte, blindwütig unser Gemeinschaftswerk zu zerstören. Ich betone: „versuchte“. Angesichts der Zerstörung überkam mich ein unheimlicher Zorn und jene, die mich kennen, wissen, was das bedeutet. Obwohl der „Schäschägg“, unser langer Lulatsch, gut und gerne zwei Köpfe grösser war als ich, wehrte ich mich gegen die blindzerstörerischen Absichten meines Schulfreundes. Ich nahm meine Schaufel und schlug diese dem „Schäschägg“ kurzerhand „z’mitzt i Grind“. Mein Schulfreund stürzte blutüberströmt zu Boden. Erste Hilfe war angesagt! Diese kam in der Gestalt meiner Mutter, welche sich den Schaden, welcher ihr Mustersohn angerichtet hatte, kurz ansah und unvermittelt den Doktor avisierte. Das erste Donnerwetter kam vom Doktor, das zweite von meinem Vater beim Mittagstisch und beide hallen heute noch in meinen Ohren nach. Als bleibende Erinnerung an diesen Vorfall trug mein Schulkollege fortan eine kleine, aber gut sichtbare Narbe auf seiner Stirn, auf die er, nach eigener Aussage, später sogar stolz war. „Eine Narbe am Kopf ist doch männlich“, meinte er und lachte dazu.

 

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