Geschichten vom Schulweg

Von Kurt Meyer 

 

Schulweg-Regeln

 Als ich in Netstal meine Stelle an einer vierten Klasse antrat, musste ich mich zuerst orientieren, welche Regeln und Richtlinien hier galten. Zwar verstand ich nicht immer, weshalb man solche Regeln aufstellte, aber ich hielt mich daran.

  Eine dieser Regelungen betraf den Schulweg. Mit dem Zirkel wurde auf der Karte um das Schulhaus ein Kreis mit dem Radius von einem halben Kilometer gezogen. Wer innerhalb dieses Kreises wohnte, durfte nicht mit dem Velo zur Schule kommen. Die Folgsamen hielten sich an diese Regel, die andern stellt ihr Velo bei der katholischen Kirche ab und kamen dann zu Fuss zum Schulhaus.

  Grinsend kam einmal Balz Störi in die Pause und erzählte von Stöff. Dieser Junge, dem man den Schalk schon von weitem ansah und der nicht unbedingt durch sein Interesse an der Schule auffiel, wohnte gegenüber dem Schulhaus im Gemeindehaus. Er kam mit dem Velo in die Schule. Balz stellte ihn zur Rede. Mit listigen Augen erklärte er, dass er zuerst ins Schwimmbad hinausgefahren sei und dieses liege ausserhalb des festgelegten halben Kilometers. Balz hatte genügend Humor und liess diese Ausrede gelten.

 

Bald einmal wurde diese Regel abgeschafft, weil man sie nicht kontrollieren konnte.


Der  "sichere Schulweg"

  Bei mir in der Klasse sass Maurizio, ein aufgeweckter und lustiger Italienerjunge. Er wurde immer mit dem Auto zur Schule gefahren. Weil ich mich gut an meine Schulzeit erinnern kann, weiss ich heute noch, wie wichtig es ist, dass die Kinder den Schulweg ohne Erwachsene bewältigen. Deshalb fragte ich Maurizios Vater einmal, warum er seinen Sohn immer zur Schule fahre und ihn wieder abhole. Er erklärte mir, dass der Schulweg von der Lerchenstrasse zum Schulhaus für einen Fünftklässler zu gefährlich sei.

  Eines Tages fehlte Maurizio. Da es noch keine Handys gab, mit denen der Lehrer über Absenzen orientiert werden konnte, fragte ich die Kinder, ob sie etwas von Maurizio gehört hätten. Sie berichteten, dass Maurizio und sein Vater im Spital lägen. Sie hätten gestern Nachmittag auf dem Heimweg aus der Schule in der Fridolinskurve beim Pub einen Zusammenstoss mit einem Sattelschlepper gehabt. Die Kinder, die zu Fuss auf dem Heimweg waren, konnten zuschauen, wie Vater und Sohn von einem Spitalauto abtransportiert wurden. Leider weiss ich nicht mehr, ob Maurizio nach seiner Genesung vom Vater weiterhin mit dem Auto gebracht und abgeholt wurde.

 

Unerwünschter Taxidienst

  Eine weitere Begebenheit, die den Schulweg betraf, gab es im Winter. In der Mugi konnte der Skilift von der Schule benützt werden. Dabei war es mühsam, mit Skis oder Schlitten vom Unter Bühl oder vom Leuzingenweg zum Schulhaus zu gehen. Deshalb wurden Kinder, deren Eltern Zeit und ein Auto hatten, zur Schule gefahren. Ich fand dies nicht korrekt gegenüber den Kindern, deren Eltern diesen Dienst nicht leisten konnten. Ich liesss mir deshalb Folgendes einfallen: Ich nahm meinen eigenen Schulweg vom Unter Bühl mit den Kindern, die im Klausen-Quartier wohnten, unter die Füsse oder unter die Skis. In der Mugi verkündete ich, dass Kinder, die zu Fuss gekommen seien, den Skilift sofort benutzen durften. Die andern könnten erst an die Bügel hangen, wenn sie zuerst einen Aufstieg zu Fuss gemacht hätten. Nun gab es Eltern, die ihre Sprösslinge bis hinter das Gemeindehaus brachten und meinten, sie könnten damit ihren Kindern den Schulweg etwas erleichtern und ihnen trotzdem den Aufstieg in der Mugi ersparen. Doch sie hatten nicht mit der Ehrlichkeit ihrer Kinder gerechnet. Brav nahmen auch die Taxi-Benutzer den Aufstieg in Angriff.

 

  «Der Weg ist wichtiger als das Ziel!"

  In Erinnerung ist mir noch eine Begebenheit, die zeigt, dass für Kinder auf dem Schulweg anderes wichtiger ist als zum Beispiel das Mittagessen.

  Am Mittag war die Schule um zwanzig vor zwölf aus. Wenn immer möglich assen meine Frau und ich im Unter Bühl auf dem Sitzplatz vor dem Haus im Garten. Als wir schon beim Kaffee waren, sagte ich zu meiner Frau: "Schau, der Ivo kommt erst zum Mittagessen!" Ivo, ein Erstklässler, der in der Häuserreihe neben uns wohnte, kam um halb ein Uhr aus der Schule den Weg vom Klausen-Quartier herunter. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und immer wieder kauerte er sich hin, um mit den Fingern im Gras nach etwas zu suchen.

 

 Ich fragte seine Mutter, wie der Mittag bei ihnen ablaufe. Sie erklärte mir, sie hätte es längstens aufgegeben, Ivo zu etwas mehr Eile zu bewegen. Jetzt stehe das Essen immer auf dem Küchentisch. Meistens sei es kalt, doch Ivo esse, ohne zu maulen. Wenn er fertig sei, putze er die Zähne und mache sich sofort wieder auf den Schulweg, denn er wolle noch etwas Zeit zum Spielen haben, bevor er wieder ruhig im Schulzimmer sitzen müsse. Meiner Ansicht nach hätte die Mutter nicht besser reagieren können, denn das Verhalten von Ivo hat niemandem geschadet und er ist in seiner Welt von der und in die Schule gekommen.

 

«Helikopter-Eltern»

  Heute gibt es immer mehr Eltern, die ihre Kinder im Auto zum Kindergarten fahren. Wenn die Mütter dem Wunsch der Lehrerschaft nachkommen, die Schülerinnen und Schüler sollten den Schulweg zu Fuss zu machen, begleiten sie die Kinder das ganze Jahr über bis zum Kindergarten und holen sie auch wieder dort ab. Beim Kindergarten Grünhag hängt jetzt an der Gartentüre ein Schild, darauf steht: Von hier gehe ich allein. Eine Kindergärtnerin hat mir bestätigt, dass es Mütter gegeben habe, die ihren Kindern in der Garderobe Jacke und Schuhe ausgezogen und sie versorgt hätten. Zum Glück gibt es aber auch Kindergärtler, die wütend werden, wenn sie nicht allein in den Kindergarten gehen dürfen.

 

 

 In der Primarschule sagen die Kinder dann schon mit wem und wann sie sich auf den Weg in die Schule machen wollen. Dies ist auch gut so, fördert doch der gemeinsame Schulweg die Sozialkompetenz der Kinder und vielleicht auch diejenige der Eltern ein wenig.

 

 

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